Männer in Tütü und Spitzenhöschen

Collage aus verschiedenen Bildern, Büste Offenbach, Ballerina, Litfasssäule mit alten Opernplakaten, Ballerinakleid auf einem Ständer

Jedes Jahr auf’s Neue die gleiche Prozedur. Männer jeden Alters ziehen sich Spitzenhöschen und Kleider an um sich einem großen Publikum zu präsentieren. Doch warum tut Mann so etwas? Und das bereits seit 1874? Ein Projekt, dass Generationen verbindet, jedes Jahr über 30.000 Zuschauer in seinen Bann zieht und zu frenetischen Beifallsstürmen hinreißt, ist der Grund dafür. Die Vorstellungen sind meist ausverkauft, werden in der Presse mit Lob überhäuft und seit mehr als 25 Jahren im WDR Fernsehen übertragen.

Seit 1874 präsentiert die Bühnenspielgemeinschaft "Cäcilia Wolkenburg" des 1842 gegründeten Kölner Männer-Gesang-Vereins alljährlich ihr sogenanntes Divertissementchen. Dabei handelt es sich um ein Musical in kölscher Sprache, das während der Spielpause des Kölner Opernhauses in der Karnevalssession als "Welturaufführung" in der Kölner Oper aufgeführt wird. Die Bühnenspielgemeinschaft knüpft damit an frühere Zeiten an, in denen zwischen den einzelnen Szenen in der Opernaufführung eigens dafür komponierte Stücke gespielt wurden, um den Bühnenarbeitern Zeit für die Kulissenumbauten zu geben. Immer öfter wurden diese Zwischenspiele durch Darsteller bereichert, die vor dem geschlossenen Vorhang die Zuschauer während der Bühnenumbauten unterhielten. Da in den Stücken des Männergesangvereins auch Frauenrollen besetzt werden mussten, schlüpften die Männer kurzerhand in Tütü und Spitzenhöschen.

Seit Jahrzehnten auf der Bühne

In dem etwa einhundert Mitspieler umfassenden Ensemble sind mache  Darsteller heute schon seit Jahrzehnten dabei. Der älteste Darsteller ist schon fast 90 Jahre alt. 
Ein Mitspieler feiert dieses Jahr sein 50-Jähriges Bühnenjubiläum. Und das nicht als Sänger: Nein, mit 20 Jahren packte ihn die Liebe zum Ballett, dem er bis heute treu geblieben ist, ohne dass die Aufführungen um eine Attraktion ärmer wären. Aktuell gehören dreizehn Tänzer, die allesamt Laien sind, zum Ballett. Das jüngste Ballettmitglied ist 37. G.-K. Schwieren ist mit 75 der Älteste im Team. "Als ich vor 50 Jahren mit dem Tanzen anfing, war ich der Jüngste", sagt Schwieren, der seit mehr als 50 Jahren Mitglied im Kölner Männer-Gesang-Verein (KMGV) ist. Er wurde Präsident in dem Jahr, in dem die Bühnenspielgemeinschaft ihr 125 jähriges Bestehen feierte, also vor mehr als 20 Jahren. Die Cäcilia Wolkenburg ist nach seinen Worten "die schöne Tochter des KMGV".
Als er Präsident wurde fragte man ihn, wie lange er noch im Ballett mitmachen wolle. "Ja, ich mache noch ein bisschen weiter. Gottlob habe ich keine Zahl genannt. Bald ist ja relativ. Bezogen auf 100 Jahre sind 10 oder 20 Jahre ja nicht viel. Ob ich das 150-Jährige noch in verantwortlicher Position begleite, müssen wir mal schauen."

Als Internatsschüler hat er von der zehnten Klasse an Theater gespielt. "Wir waren im Internat eine sehr rührige Gemeinschaft. Man sang im Chor oder spielte in der Theatergemeinschaft. Sonst hatte man in der Hocheifel außer einer Stunde Freizeit am Tag kaum Gelegenheit, andere Dinge wahrzunehmen. Es gab kein Fernsehen – zumindest nicht für uns. Es gab kein Handy, es gab nichts, aber wir waren zufrieden. Theaterspielen und im Chor singen, das fanden wir toll. In Faust I und Faust II durfte ich als Komparse auf der Bühne mitmachen und mit einem Stoffballen vom Schnürboden runterfallen. Das war eine Faszination. Das haben wir bis zum Exzess geübt und immer ohne Blessuren." Auch heute überkommt ihn immer noch das Lampenfieber vor der Premiere.

Wenn die Aufführungszeit vorbei ist, liegen ein paar harte Wochen hinter den Mitwirkenden. Es herrscht ein bisschen Wehmut, aber auch Freude darüber, dass die permanente Präsenz zu Ende ist. Denn alle sind mehrere Wochen täglich im Geschehen verhaftet. Die Begeisterung überwiegt und motiviert, auch im kommenden Jahr wieder dabei zu sein. Erst recht, wenn das Publikum so begeistert ist über das, was die Laiendarsteller mit den unterschiedlichsten Talenten in nahezu professioneller Art darbieten. Dennoch herrscht bei den Mitspielern ein kontinuierliches Kommen - und leider auch Gehen von den Älteren - aber es ist bisher immer ein harmonischer Übergang gewesen. Es ist gut, dass das Ensemble nicht komplett ausgetauscht wird, sondern, dass immer wieder anteilig Neuzugänge erlebt werden können, ob im Ballett,im Ensemble oder bei den Solisten. Das kontinuierliche Dazuwachsen durch die Generationen, wie auch schon vor 145 Jahren fasziniert immer wieder.  Im Rheinischen Umfeld widmet man sich zur fünften Jahreszeit im Karneval eben, diesem "Divertissementchen", weil es eine besondere Form der Freude darstellt. 

Wir Älteren sind nicht mehr das Maß aller Dinge

Früher war der Respekt vor den Älteren sehr groß und man war sehr zurückhaltend, wenn die älteren einem etwas sagten. Man war geneigt, dieses - wie auch immer - umzusetzen oder mit zu tragen. Heute ist die junge Generation selbstbewusster. „Wir Älteren sind nicht mehr das Maß aller Dinge. 

"Gerade im Ballett wo das Sportliche ein bisschen stärker im Vordergrund steht als im schauspielerischen Bereich, ist es vor allem begeisternd, wenn neue, jüngere Mittänzer dazu kommen. Das spornt an, doch noch mithalten zu wollen. Das gelingt mir nicht mehr so, wie vor 30 Jahren, aber ein bisschen doch noch", gesteht Schwieren schmunzelnd.   

Mein Bild vom Alter hat sich grundlegend geändert

Das jüngste Ensemblemitglied Han Dai ist vor vier Jahren aus China zum Studium nach Deutschland gekommen. Anfangs hat er vormittags die Sprachenschule besucht. Das war es. Er hatte kaum Kontakte zu Kölnerinnen und Kölnern und auch keine Möglichkeiten, seine Sprachkenntnisse anzuwenden. Außer nachmittags beim Bezahlen an der Supermarktkasse. Ein Aushilfsjob brachte ihn quasi per Zufall zur Bühnenspielgemeinschaft der Cäcilia Wolkenburg. Er erklärte interessierten Menschen asiatische Kunstwerke. Einer der Interessenten bot ihm einen "Kulturaustausch" an und bestellte ihn für 5:00 Uhr morgens zur Kirche Sankt Andreas in Köln. Das war ein beeindruckendes Erlebnis für ihn, denn es war die Ostermesse. Das gemeinsame Singen machte ihm Spaß. Beim anschließenden Frühstuck wurde er von einem Mitglied des KMGV gefragt, ob er Spaß am Singen habe und ob er einmal zur Chorprobe mitkommen möchte. Bei der Anmeldung zum Chor waren seine Deutschkenntnisse noch nicht so gut und man sagte ihm, er solle sich unbedingt auch für die Teilnahme bei der Cäcilia Wolkenburg anmelden. Ihm wurde erklärt, dass alle Frauenrollen von Männern gespielt würden. Die Vorstellung, als Frau auf die Bühne zu gehen, gefiel ihm und die Gemeinschaft hat ihn sehr gut aufgenommen. "Alle sind so nett zu mir. Ich werde behandelt wie ein Enkelkind. Normalerweise ist das nicht so. Wenn die Leute auf der Straße einen Chinesen sehen, haben sie oft andere Vorstellungen. Aber erst hier habe ich ein Zugehörigkeitsgefühl bekommen. Das ist unbeschreiblich. Nachdem ich die Geschichte Kölns und des Kölner Männergesangvereins gelesen habe, denke ich, dass es eine sehr große Ehre für mich ist, hier mitmachen zu können. 
Die älteren Mitspieler erklären mir alles sehr geduldig, wenn ich etwas nicht sofort verstehe. Durch die älteren Mitspieler habe ich so viel über die deutsche Kultur kennengelernt. Mein Bild vom Alter hat sich hier grundlegend geändert. In China denken wir, alte Menschen sind krank und auf Hilfe angewiesen. Ab 60 gehört man in China schon zu den Alten. Aber hier: Das ist Wahnsinn, was die Älteren noch auf die Beine stellen. Hier ist man mit 80 Jahren alt."

Was sagen die Eltern dazu, wenn Sie hier in Frauenkleidern auftreten? "Das ist wie in der Peking Oper, da werden auch alle Rollen von Männern gespielt. Das ist nichts Neues für meine Eltern. Als ich ihnen ein Video zusandte, haben sie mich zuerst gar nicht erkannt. Mein Vater hätte es gerne, wenn ich mein Studium so schnell wie möglich beende, aber meine Mutter unterstützt mich sehr. Sie war Reiseleiterin. In meiner Provinz gibt es viele Minderheiten. Immer wenn sie Gruppen in ein Dorf führte, sagte sie, wir sollten deren Traditionen befolgen und respektieren. Das habe ich von ihr gelernt. Ich interessiere mich sehr für Kultur und möchte ein bisschen kölsche Tradition befolgen."

Das aktuelle Stück "Offenbach" ist dem 200. Geburtstag des in Köln geborenen Komponisten Jacques Offenbach gewidmet. Die Charaktere und die Kostüme sind so bunt und so verschieden, wie sie es nur sein können. Die Schauspieler genossen die stehenden Ovationen nach der Premiere. Sie sind stolz, dabei sein zu dürfen und ein Stück Kölner Tradition aufrechterhalten zu können. Zu sehen ist "Offenbach" noch bis zum 5. März im aktuellen Ausweichquartier der Kölner Oper im Staatenhaus in Köln und am Karnevalssamstag, den 02.03.2019 um 11.00 Uhr im WDR Fernsehen.

 
Text: Claudius Baritz