„Das alles ist unsere Lebenszeit“ - Ältere Lesben und Schwule in der Corona Krise.

Vera Ruhurs am Vorlesepult, dass mit einer Regenbogenfahne verkleidet ist

Foto: Claudius Baritz

Plötzlich ist sie wieder da, die Angst vor Stigmatisierung, das Ausgegrenztsein aus einer Gesellschaft, in der sich mittlerweile ein differenziertes Altersbild etabliert hat.
Mit Unterstützung des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend starteten BISS und der Dachverband Lesben und Alter bereits am 17. Mai 2019 gemeinsam eine Kampagne für mehr Altersgerechtigkeit in der LSBTIQ*-Community. Die Kampagne unter dem Motto „CSD ist für Alte da“ sollte gezielt die Sichtbarkeit der Generation 60 Plus in der Queeren Community stärken und darauf hinweisen, was sie als Pionierinnen und Pionier für die heutige Gesellschaft leisteten.  
Doch es kam alles anders. Eine Veranstaltung nach der anderen wurde abgesagt und plötzlich erlebten viele Ältere, dass sie zur Risikogruppe abgestempelt wurden. Mal wieder, denn das hatten viele von ihnen ja schon zu Zeiten erlebt, als AIDS in aller Munde war. Es hieß, bei ihnen sei es wahrscheinlicher, dass eine Erkrankung schwerwiegend oder gar lebensbedrohlich verläuft. Ihnen wurde dringend geraten, die Wohnung nicht zu verlassen beziehungsweise den physischen Kontakt mit anderen Menschen zu vermeiden. Viele Empfindungen sind noch geprägt von Erinnerungen an die Aidskrise und den schmerzhaften Verlust vieler Freunde.

Ältere Lesben und Schwule haben oftmals keine jüngeren Angehörigen, die Einkäufe erledigen könnten oder sich generell um sie kümmern können. Vera Ruhrus hatte daher einige ältere Lesben und Schwule über ihre Erfahrungen im ersten Jahr der Corona-Krise befragt und die Interviews in einer Dokumentation zusammengefasst. Im Rahmen des CSD Köln luden der rubicon e.V. und das Arnold-Overzier-Haus (AWO) Köln zu einer Lesung ein, in der die Autorin aus ihrer Dokumentation vorlas und einige der Interviewten live von ihren Eindrücken berichteten. Wie gefährdend erlebten sie die Krise? Was stärkte sie, und wie ist es jetzt? Wie wichtig sind verlässliche Strukturen? Die Moderation hatten Carolina Brauckmann und Georg Roth übernommen.

Die Interviews

Angelehnt an verschiedene Leitfragen hatten die Gesprächspartnerinnen und -partner der Jahrgänge 1938 bis 1965 in narrativen Interviews berichtet, wie sie die Zeit vom Beginn der Coronakrise erlebt hatten. „Dadurch habe ich viele Einblicke erhalten, die nicht unbedingt nur mit dem engeren Thema ältere Lesben und Schwule in der Coronazeit zusammenhängen. Ich habe auch viel über die Lebenswirklichkeiten der älteren Menschen und über das was sie zusammenhält, und wofür sie sich engagieren, erfahren“, erzählte Ruhrus.

 

"Die Erfahrungen mit AIDS und HIV haben mir geholfen und mich stärker gemacht, um mit dieser Covid-Situation umzugehen.“

Eugen (79) meinte, dass ihm diese Erfahrung jetzt auch ein wenig genützt hätte. „Wir hatten durch HIV bereits gelernt, pragmatisch und rational mit der Bedrohung umzugehen. Ähnlich wie bei HIV und Aids nahmen auch die Covid-19 Erkrankungen unaufhaltsam zu. Die Erfahrungen mit AIDS und HIV haben mir geholfen und mich stärker gemacht, um mit dieser Covid-Situation umzugehen.“
Er berichtete aus Zeiten von Aids, in denen viele Menschen erst einmal die Kultur der gegenseitigen Unterstützung durch die schwule Wahlfamilie kennengelernt haben. Sie hätten erst durch Aids verstanden, dass es nicht nur um genitale Sexualität geht, sondern um viel, viel mehr: Um Freundschaft und um Gay Pride.

Weniger Rechte

In einigen Wohnheimen für ältere Menschen oder Pflegeheimen gab es Besuchsverbote. In einigen durften die dort lebenden älteren Menschen nur Besuch von ihren nächsten Angehörigen erhalten. Verheiratete und Verpartnerte durften sich besuchen. Dass sich Menschen in anderen Partnerschaften nicht einmal mehr besuchen durften, kennen sicherlich noch viele Leute aus der Zeit als HIV und Aids aufkamen.
 „Bei unserem Lebensstil – ich habe bewusst nicht geheiratet – hat man dann auf einmal doch weniger Rechte“ sagte Eugen.

Verlässliche Strukturen

Betty (79): „Für mich persönlich ist es einfacher, weil ich schon vor Corona ein starkes persönliches Netzwerk hatte. Die Community insgesamt ist gut vernetzt. Das ist eine Ressource, um mit den Auswirkungen von Corona fertig zu werden.“
Betty ist in der Gruppe „Golden Girls“ engagiert. Diese Gruppe besteht seit 20 Jahren und vor der Corona-Krise trafen sich die Frauen zweimal im Monat. In dieser Gruppe sind auch viele Frauen, die alleine leben. „Während der Pandemie mussten wir uns überlegen, was wir machen können, damit wir nicht vereinsamen. Anfangs, als wir uns noch in kleinen Gruppen treffen durften, war das ok. Aber als wir uns gar nicht mehr treffen durften, war das sehr, sehr schwierig. Ich habe dann versucht, wenigstens telefonischen Kontakt aufrecht zu erhalten“ erzählte Betty.
Wolfgang (69) engagiert sich dafür, dass die Gefährdung durch HIV/Aids nicht vergessen wird. Auf die Fragen, welche Parallelen er zur Corona Pandemie sieht, antwortete er: „An den Beginn der Pandemie kann ich mich noch sehr gut erinnern, an die Stigmatisierung, die Berührungsängste. Man wusste nicht, wie es verbreitet wurde, wen es letztendlich treffen konnte. Das Unbekannte, die Ungewissheit, da sehe ich auf jeden Fall auch eine Parallele zur Corona-Pandemie.“

Pioniergeist

„Es wird schön sein, wenn das Leben wieder losgeht. Vielleicht wird es aber nicht mehr so sein wie früher …“ (Wolfgang, 69)
Freundschaften sind als Wahl- und Ersatzfamilie für LSBTIQ* essenziell und überlebenswichtig. Der Lesben und Schwulenverband fordert, dass dem Stellenwert von Freundschaften als Wahl- und Ersatzfamilie Rechnung getragen werden müsse. Wenn nur leibliche Verwandte als wichtigste Bezugspersonen gelten, werden die mitunter gravierenden Diskriminierungserfahrungen, die LSBTIQ* in ihren Herkunftsfamilien machen mussten und müssen und daher mit diesen gebrochen haben, völlig ignoriert.
Diese Forderung unterstützt auch Eugen (79): „Wenn wir uns darum bemühen, auch Bindungen, die nicht auf Papier stehen, wirksam werden zu lassen, zum Beispiel bei Besuchen, dann tun wir damit auch etwas für die gesamte Gesellschaft. Wir Schwulen nehmen damit eine gewisse gesellschaftliche Entwicklung vorweg. Immer mehr heterosexuelle Paare leben in neuen Partnerschaften. Die haben die gleichen Hürden zu meistern.“